Seit einiger Zeit kursiert die Kampagne „ZeroCovid“ in linken Kreisen. Als Anarchist*innen haben wir zwar Kritikpunkte daran, freuen uns aber über den durch die Kampagne losgetretenen (innerlinken) Diskurs. Im Folgenden könnt ihr unsere Stellungnahme zur Pandemiepolitik und der Kampagne lesen. Da es mittlerweile schon einen Haufen Texte zum Thema gibt haben wir uns etwas kürzer gefasst und zitieren abschließend einen Text von Freund*innen, da wir es nicht besser ausdrücken können.
Festzuhalten ist zuallererst, dass die Pandemielage beschissen ist. Soziale Kontakte sind durch endlos verlängerte Lockdowns dauerhaft eingeschränkt, Menschen, die im Gesundheitssystem tätig sind, leiden. Anders hart getroffen sind wohnungslose Menschen auf der Straße, Menschen mit psychischen Problemen, die in der Isolation zugrunde gehen. Häusliche Gewalt verstärkt sich und niemand bekommt es mit. Dann gibt es noch die ohnehin schon in beschissenen Verhältnissen gefangenen Asylsuchenden und Geflüchteten, die ganz besonders jetzt dezentral viel besser untergebracht wären. Nicht außer Acht zu lassen ist die Situation in Gefängnissen, wo bei Corona-Ausbrüchen Gefangene über lange Zeiträume in Isolationshaft gesteckt werden und Besuche komplett untersagt werden. In den Knästen sitzen natürlich auch die Menschen, die wegen Kleinigkeiten, wie Erschleichung von Dienstleistungen (z.B. „Schwarzfahren“) oder weil sie ihre Tagessätze nicht bezahlen können, eingesperrt werden. Das sind eine Menge Leute und das ist immer eine Schweinerei, aber wegen der gerade in dieser Zeit verschlimmerten Haftbedingungen, sollten diese Menschen freigelassen werden (hier gehen wir nicht weiter auf Kritik am System Knast ein, das würde nur den Rahmen sprengen, leider nicht die Knastmauern).
Wir würden gerne so vieles ändern, aber durch Petitionen und Appelle an Reiche, Industrielle und den Staat wird das nicht gelingen. Trotz Pandemie gehen Zwangsräumungen weiter, Menschen werden eingesperrt und die großen Konzerne können weiter ausbeuten, zum Erhalt der guten alten deutschen Wirtschaft. Jetzt fragt man sich natürlich, wieso die Zahlen der Covid19-Infizierten nicht schnell wieder zurück gehen. Der Staat hätte die Verantwortung dafür gerne bei illegalen Corona-Partys, manche Linken würden gerne Corona-Leugner*innen-Proteste verbieten, vielleicht sind es aber auch die Reichen, welche ihr Leben wie gewohnt mit ein paar Schnelltest fortführen. Aber klar ist: Einen solidarischen Umgang mit der Pandemie sehen wir momentan nicht!
Und dann kommt „ZeroCovid“ ins Spiel, mit einer Hand voll guter Forderungen. Natürlich wollen auch wir, dass die Reichen zahlen, dass Profitinteressen zurückgestellt werden, dass nur noch wirklich „Systemrelevantes“ erhalten bleibt, um die Pandemie zu besiegen.
Aber da haben wir schon ein großes Problem: Es wird der Staat sein, der im Endeffekt definiert, „was wir wirklich brauchen“. Aus unserer Sicht ist z.B. antifaschistische Arbeit „systemrelevant“, besonders seit sich unter den Querdenker*innen immer mehr Faschist*innen und Antisemit*innen breit machen. Gleichzeitig hört man aus Politikkreisen Ideen wie „antifaschistische Gruppen sollten verboten werden“. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass man seine Interessen niemals durch Appelle an den Staat durchsetzen wird. Wir müssen an der Wurzel anpacken, selbst solidarisch netzwerken. Ansonsten sickert bei den ganzen Appellen an die Politik nur dieser durch: Ein noch härterer Lockdown! Man kann sich ausmalen, welche Betriebe trotzdem am laufen bleiben, die der Superreichen.
Dazu kommt dann noch die, mit den härteren Lockdown-Maßnahmen einhergehende, Überwachung und fortschreitende autoritäre Formierung, sprich: Mehr Nachverfolgung von sozialen Kontakten durch Ämter, der Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren, mehr Polizei, mehr Befugnisse für die Polizei, mehr digitale Überwachung, mehr Einschränkungen der Bewegungsfreiheit.
Die Konsequenzen der Umsetzung ihrer Forderungen finden bei „ZeroCovid“ zu wenig Beachtung:
„Die Konsequenz, dass der Staat zu stärkeren polizeilichen Maßnahmen greifen müsste, wird nicht ausgesprochen. Sollen die Polizei und Security-Dienste verstärkt werden? Soll es Internierungen in Quarantäne-Lagern geben? Der Aufruf wendet sich offensichtlich an den Staat. Aber dieser
Staat sollte nicht in seiner autoritären Tendenz verstärkt werden.“ [1]
Auch ist unklar, wie in der aktuellen Situation ein europaweiter Shutdown umgesetzt werden könnte, ohne Nationalstaatlichkeit und Zentralismus zu fördern.
(*Achtung zynische Bemerkung*) Natürlich kommt „ZeroCovid“ mit einem tollen Design daher, man braucht sich keine eigenen Sprüche mehr ausdenken, die Forderungen sind ja auch ganz toll und vor allem braucht man nur unterschreiben. Besser gehts doch gar nicht oder? Da können wir einfach zu Hause bleiben und abwarten bis die Politik regelt, dass was viele eh schon machen momentan…
Die Möglichkeiten, den „solidarischen Shutdown“ von unten mitzugestalten, werden nur am Rande angesprochen und bleiben vage. An dieser Stelle würden wir gerne auf den auf Indymedia erschienenen Text „Eine pragmatische Kritik an ZeroCovid“ verweisen, der viele unserer Überlegungen gut in Worte fasst. Außerdem schaffen es die Autor*innen, nicht bei unkonstruktiver Kritik stehen zu bleiben – wie es so oft in der radikalen Linken passiert – sondern versuchen im Anschluss auch konkrete Handlungsideen zu entwickeln. Dabei sind sie auch selbstkritisch und gestehen, dass die Handlungsfähigkeit der radikalen Linken eben auch beschränkt ist.
„Zusammenfassend zu ZeroCovid müssen wir sagen: den geforderten Lockdown können wir nicht mittragen. Gegebenenfalls müssen wir aber anerkennen, dass es von uns in der heutigen Lage keine effektive Alternative gibt, wie mit der Pandemie umzugehen ist. Nichts zu tun, ist genau so zynisch wie unsere Ideale zu verraten. Wir müssen zur Forderung eines Lockdowns eine Oppositionsrolle einnehmen. Dennoch wissen wir, dass es unterschiedliche Einschätzungen zur gesellschaftlichen Notwendigkeit eines Lockdowns gibt. In diesem Falle heißt es, die Widersprüche aushalten zu müssen. Wir glauben, in der Praxis kommt man sich näher als gedacht! Was die übrigen Forderungen von ZeroCovid anbetrifft: sie liefern uns eine sinnvolle und aktuelle Kritik des staatlich-kapitalistischen Handelns. Wir können die Forderungen aus antiautoritärer und antikapitalistischer Sicht – wie oben versucht – aufgreifen.
Dementsprechend besteht unsere erste Handlungsoption darin, eine Oppositionsrolle einzunehmen. Den Staat zu kritisieren, seinen Zynismus und sein Kalkül mit Menschenleben zu kritisieren, sowie die finanziellen Hilfen für Umweltverschmutzer*innen und Kapitalist*innen zu kritisieren. Hierfür eignet sich eine social-media Kampagne mit #ZeroCovid, aber auch Kundgebungen bei den Krisengewinner*innen und/oder Verlierer*innen der Krise.
- Einen allgemeinen Lockdown können wir nicht befürworten, aber, dass mit einer Einschränkung der Wirtschaft eine Entspannung der Pandemie einhergeht, steht außer Frage. Daher können wir durch Aufrufe zu Streiks, Krankmeldungen und Blockaden die Beschäftigten dazu motivieren, die Wirtschaft von unten einzuschränken.
- Zusätzlich kann ZeroCovid aufgegriffen werden, wenn wir den Staat auffordern, die Wirtschaft runter zu fahren. Im Idealfall würde der Arbeitszwang aufgehoben und durch Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz gedeckt, so dass jede*r Arbeiter*in/ jeder Betrieb selbst einschätzen kann, ob weitergearbeitet oder geschlossen wird. Das gleiche lässt sich mit kleinen Klassen, Virenfiltern und ohne Präsenzpflicht auf Schulen übertragen.
- Das gleiche gilt für die Forderungen nach Unterbringung für z.B. Geflüchtete und Obdachlose in Hotels, Ferienwohnungen und leerstehenden Häusern. Radikale Aktionen wie z.B. Besetzungen können durch die wissenschaftliche Einschätzung von ZeroCovid unterstützt werden.
- Auch im Privaten ist Rücksichtnahme aus unserer politischen Sicht natürlich sinnvoll. Rücksichtnahme hat nichts mit Staatshörigkeit oder Wissenschafts-Versessenheit zu tun, wenn sie von gefühlter Solidarität gespeist ist. Rücksichtnahme kann jedoch sehr verschieden aussehen, denn sie ist abhängig von Kontext und betroffenen Personen. Sie kann von Kontaktbeschränkungen bis hin zu häufigem Kontakt gehen. Es müssen dabei immer sowohl individuelle Wünsche als auch die aktuelle Pandemielage mitgedacht werden.
- Frei verfügbare Tests für alle! Eine konkrete Forderung, damit Menschen informierter und selbstbestimmter entscheiden können, wie wann, wo und mit wem sie sich bewegen.
- Wie wir oben festgestellt haben, fehlt es aber an gesellschaftlicher bzw. gemeinschaftlicher Verbundenheit, wo reale Interaktionen zu realer Solidarität führen. Das zeigt sich jetzt besonders deutlich, ist aber ein Problem, das über die Coronakrise hinaus geht. Daher ist der Aufbau von solidarischen Nachbarschaften, was tatsächlich erstmal mit einem Sich-Kennenlernen anfängt, eine sinnvolle Strategie in der Pandemie. Nachbarschaftsversammlungen, Kundgebungen etc.
- Um den antikapitalistischen Ansatz von ZeroCovid (in unserer Interpretation) über die Pandemie hinaus zu unterstützen, braucht es u.a. große Mobilisierungen. Ein europäisches Krisenbündnis mit lokalen Ablegern würde dem Ausmaß der sozialen Krise, die uns bevorsteht, gerecht. In der politischen Formulierung sollte soziale Krise, Arbeit, Klima und Migration etc. zusammen gedacht werden. Wahrscheinlich kommt ein solches Bündnis anfänglich nicht um Appelle an den Staat herum. Es wird von der Kraft des Bündnisses abhängen, wie sinnvoll diese sind.
- Sobald die Mobilisierung gegen die soziale Krise Fahrt aufnimmt, sollte der Impuls auch verwendet werden, selbstorganisierte Gegenentwürfe voranzutreiben. Gemeint sind Formen der Commons (gemeinschaftlich genutzte und verwaltete soziale Infrastruktur, Produktionsstätten etc.) Vergesellschaftung von Häusern, Demokratisierung der Arbeit, Stärkung von Selbsthilfestrukturen. Ein Beispiel kann sich an den Entwicklungen in Griechenland genommen werden, wo sich während der Protestwelle gegen die Sparpolitik genau solche Initiativen bildeten.
- Bei alldem sollten wir die reaktionäre Mobilisierungen von Querdenken, AfD und Co. nicht vergessen. Es gibt eine linke Kritik an den staatlichen Umgang mit Corona und diese kann ohne Zweifel gegen Querdenken ins Gefecht gebracht werden. Die Demos am 30.12.2020 und am vergangenen Samstag (23.1.) haben gezeigt, dass das möglich ist.
Und jetzt Genoss*in, fass dich kurz. Die Revolution wird nicht mit Worten gemacht, sondern mit Taten. (Barcelona, 1936)“ [2]
[1] Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist (Alex Demirović)
https://www.akweb.de/bewegung/zerocovid-warum-die-forderung-nach-einem-harten-shutdown-falsch-ist/
[2] Eine pragmatische Kritik an ZeroCovid (Eine Hand voll antikapitalistischer Gruppen, die die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben haben)
https://de.indymedia.org/node/136310
Eine Auswahl weiterer Beiträge zu dem Thema findet ihr hier:
– Die Pandemie besiegen (Christian Zeller und Verena Kreilinger)
– One Solution! Zero Covid? (ak unknown desires)
https://de.indymedia.org/node/134861
https://kontrapolis.info/1833/
– Zero-Covid ist eine Nullnummer und über das Sein oder Nichtsein der sozialen Revolution (Soligruppe für Gefangene)
https://de.indymedia.org/node/136569
– #ZeroCovid und Anti-Covid effektiv – eine Synopse (systematisch gegen das system)
https://de.indymedia.org/node/135317
– Lockdown Capitalism
https://lockdowncapitalism.noblogs.org/
– Contra Zero-Covid (Anarchistische Gruppe Lübeck)