11 Jahre nach dem Mord an Alexis Grigoropoulos: we don’t forgive – we don’t forget!

Heute vor 11 Jahren wurde Alexis Grigoropoulus in Athen von den Bullen ermordet. Wir möchten aus diesem Anlass allen Freund*innen gedenken die im Kampf für ein besseres Leben ihres gegeben haben. Ob Chile, Ecuador, Bolivien, Mexico, USA, Iran, Irak, Rojava oder Frankreich…Never forgive, never forget!

In den letzten Monaten wird das anarchistische Stadtviertel Exarchia in Athen massiv von der neuen griechischen Regierung unter Druck gesetzt und vielfach von den Bullen angegriffen. Der letzte Höhepunkt dieser Angriffe ist ein Ultimatum der Regierung an alle besetzten Häuser in Griechenland, Mitverträge abzuschließen oder die Häuser zu räumen. Die Frist für dieses Ultimatum läuft zynischerweise am 6.12. ab – gleichzeitig mit dem Todestag von Alexis.

Es folgt ein ausführlicher Bericht samt Interview mit einem anarchistischen Genossen zu den aktuellen Verhältnissen in Griechenland. (ausgeliehen von: https://crimethinc.com/2019/11/23/neue-demokratie-das-neue-gesicht-der-staatlichen-gewalt-in-griechenland-ein-ausblick-aus-exarchia-im-angesicht-des-sich-anbahnenden-showdowns)

Das Viertel Exarchia in Athen, Griechenland, ist weltweit als Epizentrum des kämpferischen Anarchismus bekannt. Seit vielen Jahren besetzen Anarchist*innen und Geflüchtete zusammen Häuser, gründen Wohngemeinschaften und bauen soziale Zentren auf, die eine Vielzahl von soziale Leistungen außerhalb der Kontrolle des Staates erbringen. Seit August hat die neue Regierung eine Reihe von massiven Razzien gegen Migrant*innen, Anarchist*innen und andere Rebell*innen durchgeführt, zuvor hatte sie das Universitätsasyl aufgehoben und eine breite Palette neuer repressiver Maßnahmen und Technologien eingeführt. Jetzt hat die Regierung allen verbleibenden Besetzungen in Griechenland zwei Wochen Zeit gegeben, um Mietverträge mit den Eigentümern abzuschließen oder das gleiche Schicksal zu erleiden. Diese Frist fällt mit dem 6. Dezember zusammen, einem Tag, den Anarchist*innen seit zehn Jahren als Jahrestag der Ermordung des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos durch die Polizei und des darauf folgenden Aufstands begehen.

Die neue Regierungspartei Griechenlands, passender Weise Neue Demokratie genannt, wird von einigen Medien als „Mitte Rechts“ im Gegensatz zu völlig faschistischen Parteien wie der Goldenen Morgendämmerung bezeichnet; tatsächlich hat die Neue Demokratie einen Großteil ihrer repressiven und fremdenfeindlichen Agenda direkt von der faschistischen Rechten übernommen, während sie eine neoliberale Agenda zugunsten des internationalen Finanzkapitals verfolgt. Premierminister Kyriakos Mytsotakis, ein angestammter Repäsentant der kapitalistischen Klasse, dessen Vater schon Premierminister war, steht exemplarisch für eine politische Kaste, die versucht, die letzten Garantien zum Schutz der Arbeiter*innen und Armen zu zerstören und gleichzeitig diejenigen, die sich widersetzen, zum Sündenbock zu machen.

Im folgenden Interview beschreibt ein Anarchist in Athen die sich abzeichnende Repression der Regierung und untersucht die Herausforderungen des Kampfes. Dies ist nichts Geringeres als ein Versuch, die Geschichte der Widerstandsbewegungen in Griechenland und auf der ganzen Welt zu löschen und neu zu schreiben – so dass die Daten 17. November und 6. Dezember, an denen die Demonstrant*innen den von der Polizei Ermordeten gedacht haben, stattdessen den Triumph der Unterdrückung markieren -, so dass der Name Black Panthers nicht mehr an die schwarze Organisation zur Selbstverteidigung erinnert, sondern an die Schwarzhemden der Neuen Polizei, die in den U-Bahnen und Touristengebieten patrouillieren. Die griechische Polizei imitiert Demonstranten auf der ganzen Welt und terrorisiert Leute in der Exarchia, indem sie sie mit Laserpointern blendet. All dies unterstreicht das Ausmaß, in dem die Fassade bröckelt: Von Chile bis Hong Kong bricht ein offener Krieg aus, zwischen denen, die regieren wollen, und denen, die nach Freiheit streben.

Wir haben diese Welle der Reaktion erwartet, seit die linke Partei Syriza 2015 an die Macht kam. Ähnliches geschah vor nicht allzu langer Zeit in Brasilien: Die Arbeiterpartei (PT) behielt jahrelang die Macht, indem sie kleine Sozialreformen einleitete, eine neoliberale Agenda verfolgte und gegen die sozialen Bewegungen vorging, und so schließlich die Bedingungen zu schaffen, unter denen die extreme Rechte die Regierung ergreifen und sich an der Bevölkerung rächen konnte, bis hin zum Wahlsieg von Jair Bolsonaro. Während einige Linke dies als Grund sehen, den linken Parteien gegenüber loyal zu bleiben, egal was sie tun, sehen wir in den Ereignissen in Brasilien und Griechenland eine Erinnerung daran, dass keine Wahl eine kollektive horizontale Organisation ersetzen kann, die uns eines Tages in die Lage versetzen könnte, dem Staat entgegenzutreten.

Die Repression in Griechenland gibt uns die Möglichkeit, die Wirksamkeit der derzeitigen anarchistischen Taktiken und Strategien in einem Kontext, in dem viele tausend Menschen sie anwenden, neu zu bewerten. Wir sollten den griechischen Anarchist*innen nicht die Verantwortung dafür geben, dass sie diese Unterdrückung erleben – die Geschichte ist noch nicht vorbei, und wie in Chile kann dieses Vorgehen die Bewegung gegen den Staat letztlich erweitern und vertiefen. Man könnte höchstens annehmen, dass diese Welle der Repression die Schwierigkeiten veranschaulicht, heute ein festes Territorium zu verteidigen. Wenn Regierungen um ihre Stabilität fürchten, werden sie so hart wie möglich zuschlagen. Das Zeitalter des Waffenstillstands ist vorbei. In den kommenden Jahren wird es unmöglich sein, Zonen der Autnonomie zu verteidigen, ohne immer größere Aufstände gegen die Autorität loszutreten.

Die internationale Solidarität ist dabei ein wesentlicher Aspekt. Wir fordern alle auf, über die Ereignisse in Griechenland auf dem Laufenden zu bleiben, die Inhaftieren dort zu unterstützen und Solidaritätsaktionen an den griechischen Botschaften und anderswo durchzuführen.

Es folgt das Interview.

Riot-Cops bewachen die US-Botschaft und kesseln anarchistische Demonstrant*innen am 17. November.


Zuletzt sprachen wir im August, was ist seit dem passiert?

Seit August hat der griechische Staat die allgemeinen Erwartungen übertroffen. Es ist schwer zu sagen, wo man anfangen soll, um die Vorfälle von Brutalität und Terror aufzulisten, die in den letzten drei Monaten die anarchistische Bewegung, die ins Visier geratenen Minderheiten und all die Ausgeschlossenen oder im Widerspruch zur neuen Regierung stehenden getroffen haben.

Was als nächstes passiert, wird sicherlich die bereits eingetretene intensive Repression übersteigen. Jeden Morgen wache ich auf und lese die neuen Nachrichten, eine weitere Besetzung wurde geräumt, eine weitere Person geschlagen oder verhaftet. Wir sehen eine neue Repressionskampagne, in der sich eine ermutigte Rechte für die Jahre unter einer linken Regierung rächen will, wobei sie sich ironischerweise auf diejenigen konzentriert, die außerhalb und gegen die Syriza-Regierung waren. Syriza führte auch Repressionen durch, griff aber auf eine komplexere, irreführende und indirekte Strategie zurück.

Einige ältere Anarchist*innen beschreiben das, was jetzt geschieht, als nichts anderes als eine Rückkehr zu den Tagen vor Syriza. Doch selbst diejenigen, die seit dem Wiederaufleben der anarchistischen Bewegung in Griechenland in den 80er Jahren dabei sind, geben zu, dass dies alle früheren Repressionswellen seit der rechtsextremen Militärjunta, die Griechenland von 1967 bis 1974 regierte, übersteigen könnte.

Der Staat schießt aus allen Rohren. Er versucht, die anarchistische Bewegung zu zerstören, aber er versucht auch, die verbleibenden Freiheiten aufzuheben, die Griechenland im Vergleich zu anderen westlichen Staaten einzigartig gemacht hat. „Recht und Ordnung“ ist das Banner, unter dem diese Regierung diese Racheaktion durchführt.

Die Polizei verprügelt und verhaftet Jugendliche.

Es könnte schlimmer sein. Diese Art von staatlicher Gewalt ist in den Vereinigten Staaten die Regel; in anderen Teilen der Welt findet eine viel brutalere Unterdrückung statt. Ich möchte lediglich über die Situation in Griechenland in diesen dunklen Tagen berichten, insbesondere in Athen. Ich bekräftige meine Solidarität mit den Kämpfen, die sich von Chile bis Hongkong als Reaktion auf die kapitalistische Umstrukturierung in der ganzen Welt entwickeln. Ich hoffe, mehr Solidarität zu wecken und dafür zu sorgen, dass die Geschichte dessen, was hier geschieht, nicht ungeschrieben bleibt.

Am 20. November hat das so genannte „Ministry of Citizen Protection“ offiziell alle in Griechenland verbliebenen Besetzungen innerhalb von fünfzehn Tage zum verlassen aufgefordert ansonsten würden sie gewaltsam geräumt. In der Erklärung fordern sie die Besetzer*innen auf, sich mit den Eigentümer*innen in Verbindung zu setzen, um Mietverträge abzuschließen, und behaupten, dass Migrant*innen in „Inlandsunterkünfte“ verlegt würden.[Heute haben die Medien eine Karte der bedrohten Besetzungen veröffentlicht.] Während die meisten besetzten Gebäude im Besitz des Staates sind, und selbst in Fällen, in denen die Eigentümer keine Schritte unternommen haben, um die Besetzer*innen zu vertreiben, haben Regierungsbeamt*innen sie unter Druck gesetzt oder Rechtfertigungen für Räumungen fabriziert, wie z.B. Anschuldigungen wegen Drogenhandels oder Waffenherstellung. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Squats eine strenge Anti-Drogenpolitik verfolgen und sich in Anbetracht der Gefahr unmittelbar bevorstehender Überfälle um die Risiken der Waffenherstellung sehr wohl bewusst sind, sind diese Anschuldigungen offensichtlich unehrlich. Solche Fabrikationen liefern auch Ausreden, um Squats wie Lelas, die seit über 20 Jahren besetzt sind, zu räumen, unabhängig davon, ob es Druck von ihren Besitzer*innen oder genaue Beweise für illegale Aktivitäten gibt. Nach den von der Neuen Demokratie ernannten Staatsanwält*innen stellen auch die Wohnschutzgesetze kein Hindernis mehr für das derzeitige Regime dar.

Was die „Inlandsunterkünfte“ für Migrant*innen betrifft, so ist dies eindeutig ein Hinweis auf Internierungslager. Als wir das letzte Interview im August beendet hatten, wurde nur von etwa 150 Migrant*innen berichtet die während der Razzien vom 26. August geräumt wurden. Heute wurden den offiziellen Zahlen zufolge weit über 500 Migrant*innen geräumt. Zu den Squats, in denen Geflüchtete leben, die seit dem 26. August geräumt wurden, gehört die 5th High School von Athen in Neapoli, eine namenloser Squat am Rande von Omonia, das Hotel Oneiro Squat in Exarchia und der Clandestina Squat in Exarchia.

Die Menschen, die vom Staat aus diesen Besetzungen entführt wurden, wurden in Haftanstalten gebracht oder in Internierungslager fernab der Öffentlichkeit verschleppt. Viele Menschen wurden wegen der Überbelegung der Lager von diesen abgewiesen, sie sind nun obdachlos und dadurch verwundbar gegenüber Menschenhandel und Angriffen von Faschist*innen und der Polizei. Die Unterbringung in diesen Lagern ist offenbar kaum besser. Viele Geschichten sind jedoch ungehört geblieben; die Kommunikation mit vielen wurde unterbrochen.

Einige der aus Clandestina Vertriebenen weigerten sich, in einen Bus zu einem dieser Lager zu steigen; die Polizei stahl ihre Papiere und zwang sie, im strömenden Regen 10 Meilen zurückzulegen, ohne zu wissen, wohin sie gehen würden. Immer häufiger stiehlt die Polizei die Dokumente von Geflüchteten oder Immigrant*innen, die sich widersetzen, wodurch zukünftige Polizeikontakte erschwert werden. Die Bedingungen in den Lagern sind schlecht, sie sind überfüllt und unhygienisch; faschistische Gruppen haben sie mit Steinen beworfen und Schweine-Barbecues außerhalb der Lager organisiert, in der Hoffnung, diejenigen zu beleidigen, von denen sie glauben, das sie Muslime sind. Diese Woche veröffentlichte die Regierung einen Plan, um die Verfahren zur Aufnahme von Geflüchteten weiter zu verkürzen und gleichzeitig neue Internierungslager in verlassenen Schulen oder ungenutzten Flächen weit weg von Städten und Touristenzielen zu finanzieren.

Am 2. November überfiel und räumte die Polizei die 14-jährige Besetzung, die als Vancouver bekannt ist und sich in der Nähe der University of Economics von Athen befindet, und verhaftete vier Personen, platzierte Drogen auf dem Gelände, zerstörte das Innere des Hauses, entführte mehrere Hunde und verschloss das Gebäude mit den darin gefangenen Katzen. Nach dem Hungerstreik eines Mitglieds einer Tierbefreiungsgruppe und gesetzlichem Druck erlaubten die Bullen einer Person, die Ziegel des Gebäudes zu erklimmen und die Katzen freizulassen, die die Polizei zur Strafe verhungern lassen wollte. Vancouver wurde von einer Vielzahl von Anarchist*innen sehr geschätzt und überschritt einige der Spaltungen, die die Bewegung hier heimgesucht haben. Es war auch die erste anarchistische Besetzung, die geräumt wurde.

Eine Antwort auf die Räumung des Vancouvers.

Außerhalb von Athen, in Larisa, wurde der Palmares-Platz geräumt. In Thessaloniki, wo die Faschist*innen bei nationalistischen Demonstrationen um den Namen Mazedonien im Januar 2018 die besetzte Libertatia niedergebrannt hatten, waren die Besetzer*innen mit dem Wiederaufbau des Gebäudes fast fertig; die Polizei griff sie an, verhaftete vier Personen und zwang die Bewohner*innen, den Wiederaufbau abzubrechen, weil sie einen historischen Ort „zerstörten“.

Ursprünglich erklärte die Regierung, dass alle Besetzungen bis zum 17. November geräumt werden sollten – dem Jahrestag jenes Tages im Jahr 1973, an dem die griechische Militärjunta die Polytechnische Universität in Exarchia mit einem Panzer angriff und Dutzende ermordete. Nun, da diese Frist abgelaufen ist, kündigt eine neue Erklärung der Regierung an, dass alle Besetzungen bis zum 5. Dezember, einen Tag vor dem Jahrestag des Mordes an Alexis Grigoropoulos, einem unbewaffneten 15-Jährigen, in Exarchia, geräumt werden. Beide Daten wurden eindeutig als Provokationen gewählt und bekräftigen ausdrücklich die Morde an jungen Zivilisten, die der griechische Staat begangen hat, und die darauf abzielen, die Bewegungen zu unterdrücken, die an sie gedenkt.

Die Regierung hat der Polizei rasch viele zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt, um die Migrant*innen in Athen anzugreifen und die anarchistische und Besetzer*innen Bewegungen zu zerschlagen. Syriza hatte die Delta-Polizei suspendiert, jene marodierende Motorradtruppe, die früher Demonstrant*innen in Exarchia schlug und terrorisierte, und sich stattdessen auf die MAT-Einheiten der Polizei gestützt. Jetzt wurden 300 neue Delta-Polizisten unter dem neuen Namen OPKE eingestellt, was mit „Kriminalpräventions- und Repressionsteams“ übersetzt werden kann. Sie sind nun offiziell wieder auf der Straße.

Die Neue Demokratie hat auch eine neue Polizeiteinheit innerhalb der U-Bahnen und Touristengebiete Athens geschaffen, die wegen ihrer schwarzen Uniformen schändlicherweise die Black Panthers genannt wird. Die Transportbestimmungen und die Durchsetzung der Fahrpreise waren bereits strenger geworden; jetzt gibt es allein aus diesem Grund eine Einheit der Polizei. Die MAT-Bullen, die Demonstrationen unterdrückt, Wache hält, um zu verhindern, dass geräumte Squats wieder besetzt werden, Demonstrationen angreift und jeden Tag das Viertel von Exarchia umgibt, wurde ebenfalls um weitere 1500 Mitglieder erhöht. Diese Zunahme war erstmals am 17. November sichtbar.

Die Bullen auf den Straßen sind sichtbar ermutigt. Ich habe gesehen, wie Cops Frauen offen schikanieren; sie bedrohen jeden, von dem sie vermuten, dass sie/er ihr Feind sein könnte. Ihre Brutalität ist intensiv und erstaunlich zufällig. In grotesker Aneignung der Taktik der Demonstrant*innen in Hongkong und Chile (die Laserpointer verwenden um die Riot-Cops auf Abstand zu halten) verwenden sie diese um Zielpersonen auf den Straßen zu makieren; wenn sie nichts Besseres zu tun haben, leuchten sie auch manchmal einfach in die Augen der Menschen. Das ist mir und anderen Leuten, die ich kenne, passiert.

Die Nähe zu einer Auseinandersetzung, unabhängig von einer Teilnahme daran, ist Grund genug für Polizist*innen, dich mit körperlicher Gewalt anzugreifen; sie sind keinem rechtlichen Risiko ausgesetzt und versuchen, maximale Gewalt gegen die allgemeine Bevölkerung auszuüben. Einzelne Amtsträger*innen sind stolz auf die Macht, die ihnen dafür eingeräumt wird. Ein bekannter Anarchist wurde kürzlich auf dem Platz von Exarchia wegen einfachen Sitzens verhaftet. Die Polizei zog ihm dann seine Kleidung herunter und hat ihn sexualisiert angegriffen, sie sagten ihm: „Die Junta ist zurück“.

Auch auf Ebene der Justiz wurden erhebliche Veränderungen bei der Repression vorgenommen. So hat die Regierung beispielsweise die Mindeststrafe für diejenigen, die wegen Terrorismus verurteilt wurden, von 17 auf 22 Jahre verlängert, während sie gleichzeitig die Bedingungen für die Freilassung und die Strafen für Bewährungsverstöße verschärft hat. Die Strafen für Unruhen und die Verwendung von Molotow-Cocktails wurden verschärft; erweiterte Gesetze gegen Hausfriedensbruch erlassen, die sich speziell gegen Proteste richten, die „rechtswidrig“ in Gebäude eindringen – ein direkter Angriff auf Gruppen wie Rouvikonas, die Bürogebäude betreten, wenn sie gegen Arbeitsbedingungen oder Ausbeutung durch Chefs oder Arbeitgeber*innen protestieren. Es gibt Bemühungen, diejenigen zu bestrafen, die sich für den Widerstand einsetzen oder über ihn berichten, wobei im Wesentlichen radikale Inhalte selbst kriminalisiert werden sollen. Die neue Regierung hat zum Ziel, die Apparate und Praktiken der staatlichen Repression in Griechenland zu modernisieren, so dass sie mit denen der Vereinigten Staaten vergleichbar sind. Die zum Ministerium für Zivilschutz ernannten Beamt*innen haben sich mit verschiedenen ausländischen Behörden, einschließlich des FBI, beraten. Sie investieren in neue Technologien wie Drohnen und digitale Überwachung.

Die Polizei hat zusätzliche Methoden der Einschüchterung und Überwachung mit voller Gewalt wieder aufgegriffen. Bullen tauchten vor Demonstrationen bei mutmaßlichen Anarchist*innen zu Hause auf, um sie einzuschüchtern – eine Taktik, die sie unter Syriza einführten, aber weniger oft und weniger intensiv anwendeten. Anarchist*innen haben GPS-Ortungsgeräte an ihren Fahrzeugen gefunden und Kameras vor ihren Häusern entdeckt, die in Autos stationiert waren. Vor zwei Nächten bemerkten Anarchist*innen in Exarchia ein Fahrzeug mit schlecht getarnter Überwachungsausrüstung, das vor den Büros von Class Counterattack und dem Mikro Cafe geparkt war. Als sie dorthin gingen, um das Auto zu fotografieren, schwärmten Dutzende von Riot-Cops durch das Gebiet und eskortierten zwei Undercover-Bullen, als sie das Fahrzeug wegfuhren.

Premierminister Kyriakos Mitsotakis voller Schadenfreude über die neuen Repressionsmöglichkeiten.

Am 8. November führte die Polizei Anti-Terror-Razzien in über einem dutzend Häusern durch, welche angeblich die Wohnungen von Anarchist*innen waren, die mit der Gruppe „Revolutionäre Selbstverteidigung“ in Verbindung stünden. Die Behörden behaupten, eine Reihe von Waffen beschlagnahmt zu haben, darunter Waffen, die bei früheren Angriffen gegen die mexikanische Botschaft und das Hauptquartier der PASOK, der sozialistischen Partei, eingesetzt wurden, wo sich eine der Hauptstationen der MAT-Bullen in Exarchia befindet. Die Polizei hat bei diesen Hausdurchsuchungen drei Personen verhaftet; es ist wahrscheinlich, dass sie mit den neuen Strafmaßnahmen bei der Verfolgung dieser Personen experimentieren werden. Der neue Premierminister hat damit geprahlt, dass diese Verhaftungen ein Sieg für den Staat sind.

Nach der formalen Abschaffung des Universitätsasyls hat die Polizei Universitäten wie die School of Economics in Kipseli betreten, um die besetzten sozialen Zentren, die sogenannten Stekis, zu räumen. Die Polizei bedroht auch die Stekis, die sie noch nicht geräumt hat und drängt die Universitätsverwaltungen dazu, sie auf den Campus zu lassen. Innerhalb der Universitäten wurden rechte Gruppen wie die Jugendpartei der herrschenden Partei Neue Demokratie ermutigt offene gegen Migrant*innen zu demonstrieren sowie Antifaschist*innen, Anarchist*innen und Einzelpersonen anzugreifen.

Riot-Cops betreten die Economics School in Athen.

Demonstrationen finden weiterhin statt, wobei trotz des unerbittlichen Angriffs von allen Seiten kleine Zusammenstöße ausbrechen. Viele erwarteten, dass der 17. November die Zukunft wichtiger Jubiläen anzeigen wird, die Revolutionär*innen und Anarchist*innen genutzt haben, um eine Tradition des Widerstands und der Unruhen zu etablieren.

Der 17. November 1973 markierte das Wiederaufleben der anarchistischen Bewegung im 20. Jahrhundert und die Entstehung von Exarchia als Zone antifaschistischer und polizeifeindlicher Aktivitäten. Die meisten Anarchist*innen haben den Jahrestag des 17. November begangen, indem sie die Polytechnische Hochschule besetzt und das Erbe der von der Polizei Ermordeten geehrt haben. In diesem Jahr gab es auf der tagsüber stattfindenden Demonstration, die an die US-Botschaft vorbeiging – da die USA die Junta unterstützten, um Griechenland nach einem Bürgerkrieg zwischen Linken und Rechten als rechte Festung zu erhalten – zahlenmäßig eine der größten Präsenzen von Anarchist*innen in der Geschichte dieser Demo. Tausende von Anarchist*innen nahmen in zwei Blöcken am Marsch teil. Die Polizei isolierte die größeren der Blöcke vom Rest der Demo, mit Reihen von 500 oder mehr Riot-Cops, die auf beiden Seiten der Demonstrant*innen gingen.

In Erwartung der traditionellen nächtlichen Unruhen um das Polytechnikum in Exarchia hat die Polizei das Viertel vollständig militarisiert. Herumfahrende Gruppen der Delta-Polizei agierten in zehner Gruppen, während Hunderte, wenn nicht Tausende von Riot-Cops das Viertel umstellten. Wenn in der Vergangenheit solche Operationen stattfanden, gingen die Anarchist*innen auf die Dächer von Exarchia, um die Polizei zu bekämpfen. In diesem Jahr, ausgestattet mit Drohnen und neuen Anti-Terror-Maßnahmen, die es der Polizei ermöglichen, Gebäude ohne Rücksicht auf das Gesetz zu betreten, verhaftete die Polizei sechs Personen und beschuldigte sie, Angriffe von den Dächern aus zu planen.

Trotz dieses schrecklichen Gehabe des Staates, trotz der gegen sie bestehenden Chancen, nahmen einige hundert mutige Personen den Platz von Exarchia ein, um zu versuchen, sich durch die Reihen der Polizei zu kämpfen, um Zugang zum blockierten Polytechnikum zu erhalten. Zusätzliche eingesetzte Gruppen der Riot-Cops und der Delta-Polizei bombardierten sie mit Tränengas und Elektroschockgranaten. Eine Reihe von Videos zeigt Bullen, die willkürlich Menschen auf grausame Weise verprügeln. Viele Menschen wurden schwer verletzt und stehen vor schweren Anklagen. Wir wissen von 28 Verhaftungen in Athen am 17. November – 6 während präventiver Tagesmaßnahmen und 22 während nächtlicher Auseinandersetzungen. Mindestens 31 weitere Menschen wurden in ganz Griechenland verhaftet, als es in Thessaloniki, Patras, Heraklion und anderen Städten zu Demonstrationen kam bei denen auch Anarchist*innen präsent waren. Am nächsten Tag griff die Polizei eine in Solidarität mit den Festgenommenen organisierten Demo brutal an.