Aachen: Distanzierungs-Marathon in der Naziszene
Update: Bei Indymedia und Indymedia-Linksunten sind ebenfalls Artikel zu diesem Thema erschienen, anschauen lohnt sich.
Am 1. September 2010 wurde in Aachen der 19-Jährige Neonazi Falko W. aus Aachen-Richterich wegen des „Verdachts auf Sprengstofftaten“, sowie dem Besitz von verschiedensten Utensilien zur Sprengstoffherstellung von der Polizei verhaftet. Die Aktion wurde von Berlin aus geleitet, da W. und anderen Aachener Neonazis vorgeworfen wird, im Vorfeld des dortigen Naziaufmarschs am 1. Mai 2010 Pfefferspray, Schlagstöcke und Böller, deren Sprengkraft verstärkt war und die zudem mit Glassplittern umwickelt waren, mitgeführt zu haben. Bei einer Polizeikontrolle soll sich W. dieser Gegenstände entledigt haben. Laut Berliner Staatsanwaltschaft hatte er allerdings ein paar DNA-Spuren daran vergessen. Am 22.9., also etwa drei Wochen nach der Festnahme von Falko W. wurde ein weiterer Aachener Neonazi verhaftet, der 25-Jährige Daniel T. Im Gegensatz zu W., der in den vergangenen Jahren und vor allem in den letzten Monaten immer wieder durch Angriffe auf vermeintliche AntifaschistInnen auffiel und dabei auch nicht viel tat um seine Identität zu verschleiern, gelang es Daniel T. relativ lange, sich im Hintergrund zu halten. T. fiel erstmals auf einem von Axel Reitz angeleierten Naziaufmarsch am 8.11.2008 in Aachen auf, tauchte danach jedoch nur sporadisch bei Aktionen und Aufmärschen auf. Er gilt als einer der Haupttäter der Schändung des jüdischen Friedhofs Anfang August in Aachen.
Nach Aussage des KAL-Führers Rene Laube wurde Falko W. Mitte Juli aus der KAL ausgeschlossen. Er war aber weiterhin in KAL-Zusammenhängen unterwegs, zuletzt in Bad Nenndorf. Daniel T. wurde noch am 18.9.2010 zusammen mit etwa 30 Neonazis der KAL in der Aachener Innenstadt gesehen. Dort unterstützten diese einen von Willibert Kunkel (NPD KV Aachen) durchgeführten Infostand der NPD. T. war der einzige Neonazi, der keine „Szenekleidung“ trug und übernahm deshalb die ehrenvolle Aufgabe des Verteilens von Flyern. Nach einiger Zeit und aufgrund seiner mangelnder Überredungskunst PassantInnen gegenüber wurde dann doch ein T-Shirt mit einem an den Ku-Klux-Klan erinnernden Motiv ausgepackt. Nach der Verhaftung von T. am 22.9. wurde die für den 25.9. in Aachen von Axel Reitz und Ingo Haller geplante Demonstration gegen einen Moscheebau in Aachen temporär verboten. Reitz rechtfertigte sich auf seiner Internetseite, sprach davon, dass „nationale Sozialisten“ keine Gewalt anwenden würden, und konstatierte, dass BEIDE verhafteten Neonazis nicht zum TeilnehmerInnenkreis des Aufmarsches gehören würden. Selten eine so schnelle Distanzierung gesehen.
In den letzten Wochen gab es einige neue Entwicklungen im Falle der verhafteten Neonazis. So behauptete ein Presseartikel der Aachener Nachrichten, dass Falko W. noch im August 2010 mindestens ein Gespräch mit Beamten des Verfassungsschutz NRW hatte, welches dazu gedient haben solle, ihn als Informanten anzuwerben. Das Gespräch soll im August stattgefunden haben. In dem Presseartikel wird aus einem nicht näher bestimmten „Papier“ zitiert, in dem deutlich werden soll, dass Falko W. sich ausgiebig mit den Verfassungsschutzbeamten ausgetauscht habe. So habe er gesagt, dass er sich eine scharfe Schusswaffe besorgt hätte, um damit AntifaschistInnen zu erschießen. Die Waffe sei ihm aber von den KAL/NPD-Düren-Kadern Denis Unruh und Rene Laube abgenommen worden sein. Wo sich diese Waffe inzwischen befinden soll, ist nicht ausgeführt.
In dem Nachrichten-Artikel wird weiterhin erwähnt, dass die Cops nach einem dritten Neonazi, ebenfalls Mitglied der KAL, fahnden würden, dieser sei allerdings untergetaucht. Auch sei inzwischen klar geworden, dass mindestens T. und W. bis Ende August weiter mit Sprengstoff experimentiert hätten. Bei den am 1. September durchgeführten Hausdurchsuchungen bei mehreren Aachener Neonazis wurde wohl zudem Kleinkalibermunition, aus der zum Teil das Schwarzpulver entfernt worden war, gefunden. Daraus schließe die Polizei, dass die Neonazis versuchten, stärkere Sprengkörper zu bauen. Auch wird vermutet, dass in der Aachener Naziszene Sprengkörper verschiedener Art weitergegeben und verteilt wurden. Unklar ist nach dem Pressebericht, wo sich diese nun befinden.
Woher das besagte Dokument kommt, aus dem zitiert wird, bleibt unklar. Ebenso wie das Interesse der Behörden bezüglich der Vorkommnisse in Aachen/Berlin. In der Neonaziszene scheint allerdings die Furcht vor staatlichem Verbot zu wachsen. Die überstürzten Distanzierungen deuten darauf hin.Dabei dürften diese – wie so oft – rein strategischer Natur sein, um die eigene Struktur zu schützen. Regelmäßig wird ein Bild von angeblichen EinzeltäterInnen gezeichnet, das von staatlichen Institutionen i.d.R. mitgetragen wird. So auch im Fall W./T. Die KAL übt sich öffentlich in Distanzierungen, während die Gruppe um Falko W., er selbst, Daniel T., Timm M. und andere weiterhin zusammen mit der KAL agieren und anscheinend weiterhin in KAL Hierarchien eingegliedert sind. Bereits seit längerer Zeit waren AntifaschistInnen mehrere Neonazis aufgefallen, die regelmäßig mit Falko W. zusammen bei Aktionen in Aachen auftraten. Diese Gruppe bestand hauptsächlich aus relativ jungen Neonazis, die erst kürzlich in die Neonaziszene gekommen waren. Fraglich ist, ob diese – wie W. es anscheinend behauptet – auf ihn „eingeschworen“ waren.. Fakt ist, dass sie einen KAL-Ableger in Aachen-Stadt bildeten. Unter diesen Neonazis waren „Neuzugänge“ wie Rene G. oder Andre P., aber auch ältere Neonazis wie Timm M. oder eben Daniel T.
Schwer vorstellbar ist, dass Neonazis wie Falko W., Daniel T. etc., die fest in KAL Strukturen eingebunden waren, ohne Wissen oder Unterstützung der genannten Nazi-Kader aus NPD und KAL ihre Aktionen planten, und insbesondere an Sprengstoff, Bauanleitungen für Molotow-Cocktails und Sprengsätze, Kleinkalibermunition, eine scharfe Waffe und eine Vielzahl anderer Waffen gelangten.
In Aachen und Düren besteht ein vertrautes Verhältnis zwischen NPD Düren und KAL. Führenden Köpfe des NPD Kreisverbands Düren sind weitestgehend personal-identisch mit denen der KAL. Es gibt eine strategische Arbeitsteilung, in der die NPD Düren vor allem Geld und Infrastruktur liefert, während die KAL bei Veranstaltungen, Infoständen und Demonstrationen OrdnerInnen bereitstellt, Schutz organisiert und sich um die „Nachwuchsarbeit“ kümmert. Kleinere Gruppen aus Mitgliedern beider Organisationen konzentrierten sich auf „den Kampf um die Straße“, allerdings nicht isoliert von den Hintergrundstrukturen.
Wie der „Kampf um die Straße“ im Jahr 2010 aussah, kann folgender kleiner Überblick erahnen lassen:
Ende Mai warfen Neonazis zwei Molotow-Cocktails gegen die Stahlbetonfassade des AZ Aachen. Am 31.5. 2010 sprühten Neonazis Pfefferspray in den Eingangsbereich des Autonomen Zentrums in Aachen und warfen eine Flasche mit einem unidentifizierten Flüssigkeitsgemisch in den Flur. Einer der Nazis, Falko W., war unvermummt und führte einen Morgenstern mit sich. Am 3.6. 2010 schossen Neonazis aus einem Auto heraus mit einer Steinschleuder mit Stahlkugeln auf AZ BesucherInnen. Am Montag dem 7.6. 2010 kam es zu einem Naziangriff auf das Bildungsstreikcamp in Aachen und im Verlaufe des Tages zu weiteren Naziangriffen in der Innenstadt, dabei wurden von den Nazis Knüppel und Lanzen eingesetzt, zudem versprühten sie eine anscheinend selbst hergestellte Essiglösung. Am Abend verlagerte sich der Fokus der Nazis auf das AZ Aachen, aus einem Auto heraus schoss Timm M. mit einer Gaspistole auf AZ – BesucherInnen, Falko W. fuhr. Am 18.7.2010 legten Neonazis ein an „die Antifa“ adressiertes Paket vor dem AZ Aachen ab. Staatsschutz und Kripo benachrichtigten ein Bombenentschärfungsteam vom LKA. Nach 4 Stunden wurde das Paket „entschärft“, es handelte sich um eine Attrappe, deren Aufbau aber als professionell bewertet wurde. Die Aachener Polizei sprach im Gegensatz zum Verfassungsschutz NRW bis heute nicht davon, dass die Bombenattrappe von Neonazis abgelegt wurde.
Weiterhin wurden in den Nächten vom Freitag dem 30.7. auf Samstag den 1.8. und von Samstag dem 1.8. auf Sonntag den 2.8. an neun Orten in Aachen Sprühaktionen von Neonazis durchgeführt. Dabei wurde auch der jüdische Friedhof in Aachen geschändet. Das Eingangstor sowie die Gedenktafel wurden beschmiert, auf die Mauer wurden auf einer Länge von 40 Metern Hakenkreuze, sowie die Sprüche „Freiheit für Palästina“ und über 15 Meter „Den Juden den Gashahn aufdrehen“ gemalt. Weiterhin wurden im Sommer und Frühling an mehrere Häuser von vermeintlichen AntifaschistInnen Sprüche wie „Kommunisten töten“ oder „…..(Name des Betroffenen) töten!“ gesprüht.
Soweit zu den Entwicklungen rund um die Aachener Naziszene. Offen bleiben die Fragen, seit wann der Verfassungsschutz NRW und andere Behörden davon wussten, dass sich Aachener Neonazis scharfe Waffen besorgten und planten, diese einzusetzen, bevor Falko W. am 1. September verhaftet wurde. Pikant ist in dem Zusammenhang der im Oktober 2010 erschienenen VS-NRW-Zwischenbericht 2010, in dem von einem Schwerpunkt der „Links-Rechts Auseinandersetzungen“ in Aachen die Rede ist. Es ergebe sich das Bild eines „Schlagabtauschs zwischen linker und rechter Szene.“ Neonazis würden durch Outing-Aktionen an ihrem Arbeitsplatz in ihrem beruflichen und familiären Umfeld diskreditiert. Somit sind es dem Verfassungsschutz zufolge „vor allem die ständig fortgesetzten Outing-Aktionen und Hacking-Angriffe, zu denen seitens der Aachener rechtsextremistischen Szene keine äquivalenten Gegenaktionen existieren. Offenbar reagiert die in und um Aachen stark vertretene rechtsextremistische Szene darauf mit verstärkter Gewaltbereitschaft“. Nazis als Opfer linker Outings, die verzweifelt dagegen gewalttätig vorgehen – damit wäre die Ursachenforschung für extrem rechte Gewalt um eine Absurdität reicher.
Es bliebe, um alle AkteurInnen beisammen zu haben noch etwas über die Aachener Justiz zu sagen. Fassen wir uns also kurz: Wenn es tatsächlich in Aachen zu Verfahren gegen Neonazis kommt, gehen diese meist glimpflich aus. So wird gemunkelt, dass es in Aachen für Antifas teurer ist, sich auf einer Demonstration zu vermummen, als für Nazis, eine antifaschistische Demonstration anzugreifen, wie es etwa 30 Neonazis am 27.3.2008 in Aachen taten. Das Verfahren gegen 5 erwachsene Angreifer, darunter Denis Unruh und Rene Laube wurde direkt zu Beginn erneut verschoben – nach nunmehr 30 Monaten. Am zweiten Prozesstag sagten die Neonazis aus, sie hätten sich gegen die antifaschistische Demonstration wehren müssen. Diese Version, die für alle die diesen Angriff der Neonazis beobachtet haben einfach nur lächerlich ist, wurde von Teilen der als ZeugInnen aussagenden PolizistInnen bestätigt. Mensch darf gespannt sein, wie dieses Verfahren ausgeht.
Das Verfahren gegen 7 jugendliche Angreifer begann am 12.5.2010, also schon nach 26 Monaten und endete damit, dass die Angreifer sich schuldig bekannten. Sie wurden verwarnt. Unter ihnen waren die allseits bekannten Neonazis Eric T. und Thomas U.
Falko W. selbst wurde am12.8 wegen Körperverletzung zu 4 Wochen Jugendarrest verurteilt, und war zuvor schon wegen Körperverletzung dazu verurteilt worden, ein Buch über die Shoah zu lesen.
Zwei Aachener Neonazis, die mit Parolen und Sprühaktionen den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess glorifizierten, wurden Ende Mai wegen Sachbeschädigung verurteilt, da keine vollendete Volksverhetzung vorläge. Die Plakate und Graffitis seinen nämlich schnell von den Cops entfernt worden.
Links zum Weiterlesen:
Artikel zu den Haftprüfungsterminen bei AN-Online
Artikel von Michael Klarmann bei Blick nach Rechts
Artikel von Michael Klarmann zu den neuen Entwicklungen
Artikel der „Antifa-Recherchegruppe Aachen“ zur Festnahme von Falko W.